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Leiter des Erzählens
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Akrobatik für Fachautoren: Die Leiter des Erzählens

Fachautoren kämpfen vor allem mit einem Problem: Wie lassen sich komplexe Zusammenhänge anschaulich darstellen? Helfen kann hier die Leiter des Erzählens, eine Methode aus dem Storytelling.

Stellen Sie sich eine Leiter vor, die mit beiden Beinen auf dem Boden steht und weit nach oben gegen den Himmel ragt. Wenn Sie diese Leiter hochsteigen, beginnen Sie unten – da wo das Leben ist, mitten im Geschehen. Je höher Sie kommen, desto mehr verschwimmen die Details am Boden. Dafür gewinnen Sie an Überblick, die Zusammenhänge werden klarer.

An dieses Bild lehnt sich die Leiter des Erzählens an, ein Werkzeug des Storytellings, das die Redakteure und Journalistenausbilder Marie Lampert und Rolf Wespe in ihrem Buch „Storytelling für Journalisten“ empfehlen. „Die abstrakten Wörter liegen oben auf der Leiter“, beschreiben sie das Grundprinzip, „und je weiter wir heruntersteigen, umso konkreter und verständlicher werden sie.“

Ein Beispiel: „Das Wort Barmherzigkeit steht auf der obersten Sprosse der Leiter. Unten wartet der heilige Martin, der einen frierenden Bettler sieht, mit dem Schwert seinen Mantel teilt.“ Oder um es mit den Worten von Roy Peter Clark auszudrücken: „Am Fuß der Leiter liegen blutige Messer und Rosenkränze, Eheringe und Baseballkarten. Ganz oben befinden sich Wörter wie Freiheit oder Bildung, die sich nach einer höheren Bedeutung strecken.“

Gefragt ist Ihr Erfahrungsschatz als Berater

Ein guter Fachartikel enthält beides: konkrete und abstrakte Inhalte. Je weiter Sie auf den Sprossen hinuntersteigen, umso anschaulicher wird das Thema – umso leichter können Sie Leser auf die Leiter locken, um sie dann nach oben zu führen und ihnen die schwierigeren Zusammenhänge des Themas zu vermitteln. Wer Ihnen folgt und die Leiter hinaufklettert, wird mit dem Überblick belohnt: Er kann einordnen und verstehen.

Um die Leiter des Erzählens anzuwenden, reichen theoretische Kenntnisse in einem Fachgebiet nicht aus. Für die unteren Sprossen benötigen Sie Details, Szenen und Anekdoten aus dem Alltag. Genau hier liegt für Sie als praxiserfahrener Unternehmer oder Berater der Reiz des Instruments: Im Unterschied zu Anfängern oder bloßen Theoretikern können Sie mit Ihrem Erfahrungsschatz punkten und zum Beispiel von Ihren Erlebnissen vor Ort beim Kunden erzählen.

Wenn Sie einen Fachartikel schreiben: Auf der untersten Sprosse anfangen

Am besten starten Sie auf der untersten Sprosse, also in der Welt des Konkreten. Holen Sie den Leser in einer konkreten Situation ab – am besten dort, wo ihn der Schuh drückt. Auf diese Weise sprechen Sie seine Gefühle und Erwartungen an und wecken seine Bereitschaft, Ihnen zu folgen. Nun können Sie ihn die Leiter hinaufführen.

Marie Lampert und Rolf Wespe beschreiben diesen Weg vom Konkreten zum Abstrakten am Beispiel eines Fachthemas aus der Agrarpolitik:

„Auf der untersten Sprosse finden wir die konkreten Elemente: die Bäuerin, der Misthaufen, die Kuh, die Milch und der Käse. Wenn ich so einsteige, entwickeln die Leser Bilder im Kopf und können leicht folgen. Jetzt kann ich aufsteigen zu mittleren Sprossen, wo ich Themen wie Fruchtflächen und Subventionen finde, und den Leser zu den immer abstrakteren Problemen der Agrarpolitik führen.“

Also den Leser von unten nach oben, vom Konkreten zum Abstrakten führen? Ganz so einfach ist es nicht. Wenn Sie dauerhaft im Abstrakten bleiben, dürften Sie den Leser früher oder später überfordern – und die Gefahr ist groß, dass er Ihnen abspringt.

Deshalb die Empfehlung: Steigen Sie zwischendurch immer mal wieder die Leiter herunter. Unterbrechen Sie Ihren Höhenflug, indem Sie zum Beispiel ein anschauliches Beispiel einstreuen, das einen theoretischen Aspekt illustriert, oder indem Sie auf ein Detail zoomen, das für das abstrakte Ganze steht.

Wechseln Sie immer wieder den Abstraktionsgrad

Bauen Sie also „Inseln der Verständlichkeit“ ein, wie es die Autoren des „Storytelling für Journalisten“ ausdrücken. Wählen Sie aus Ihrem Thema einige konkrete, eingängige Aspekte aus, die Sie quasi als Rettungsinseln ins Meer der Abstraktion setzen. Der Leser kann nun von Insel zu Insel schwimmen und sich dort wieder erholen.

Auf den Wechsel kommt es an. Wenn sich Ihr Text nur in luftigen Höhen bewegt, verliert er die Bodenhaftung und gerät zur theoretischen Abhandlung. Verharrt Ihr Text in den Niederungen des Konkreten, geht das Verständnis für die Zusammenhänge verloren. Die schlimmste Variante ist jedoch ein Text, der sich ausschließlich auf mittlerem Abstraktionsniveau bewegt: Es ist weder konkret, noch werden die Zusammenhänge deutlich. Eine für den Leser todlangweilige Angelegenheit.

Klettern Sie! Trainieren Sie die Akrobatik für Fachautoren. Der amerikanische Schreiblehrer Roy Peter Clark bringt es in seinem Buch „Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben“ auf den Punkt: „Gute Autoren bewegen sich auf der Leiter der Sprache auf und ab.“

Fragetechnik im Interview

Die Leiter des Erzählens ist auch hervorragend geeignet, um in einem Interview möglichst viel aus Ihrem Gesprächspartner „herauszuholen“:

  • Bewegt sich Ihr Gegenüber in abstrakten Höhen, fragen Sie ihn: „Können Sie mir ein Beispiel geben?“
  • Verliert sich Ihr Gegenüber in den Details, fragen Sie ihn: „Was bedeutet das?“

Mit diesen Fragen holen Sie Ihren Gesprächspartner je nach Bedarf die Leiter herunter oder jagen ihn wieder die Leiter hinauf.

Wenn Ihnen die Akrobatik noch zu gewagt erscheint:
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