Viele Autoren von Fachartikeln kennen das Problem: Es gibt viel zu sagen, doch der Platz ist begrenzt. Einen Ausweg bietet hier die didaktische Reduktion, wie Professor Dr. Martin Lehner, Vizerektor für Lehre an der Fachhochschule Technikum Wien, im folgenden Interview mit der Deutsch-Werkstatt erläutert.
Herr Prof. Lehner, Ihr Spezialgebiet ist der Umgang mit großen Stoffmengen…
Martin Lehner: Ja. In der Didaktik nennt man das didaktische Reduktion. Gemeint ist damit vor allem eine Auswahlfrage: Was ist wichtig oder wesentlich für meine Zielgruppe, was kann ich hingegen weglassen? Das hört sich zunächst banal an, ist es aber ganz und gar nicht.
Warum? Weil es einem Lehrenden oder einem Autor schwer fällt, Wissen wegzulassen?
Martin Lehner: Ja. Um das zu verstehen, erzähle ich gerne folgende Analogie: Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Wohnung ausmisten. Dazu haben Sie den hehren Vorsatz gefasst, alles wegzuwerfen, was Sie seit fünf Jahren nicht mehr gebraucht haben. Doch dann halten Sie so einen Gegenstand in der Hand, betrachten ihn von rechts, von links, von oben, von unten – und denken: „Ach das schaut ja eigentlich noch ganz nett und lieb aus.“ Am Ende behalten Sie ihn dann doch.
Es fällt emotional schwer, sich davon zu trennen.
Martin Lehner: Richtig. Und so ähnlich ergeht es uns mit unserem Wissen. Je länger wir in einem Berufsfeld unterwegs sind, desto mehr Fachwissen, Fähigkeiten und Kompetenzen eignen wir uns an. Wir verfügen über immer mehr Stoff, den wir weitergeben möchten.
Und geraten dann in die „Vollständigkeitsfalle“, die Sie in Ihrem Buch „Viel Stoff, wenig Zeit“ beschrieben haben?
Martin Lehner: Diese Gefahr besteht. Zu mir kommen manchmal Kollegen, die sehr viel wissen und können. Dieses Wissen möchten sie in der besten Absicht möglichst vollständig weitergeben. Das führt zwangsläufig zu einem Stoffmengenproblem.
Dieses Verhalten lässt sich sicherlich auf andere Gruppen übertragen. Nicht nur Hochschullehrer, auch viele andere Experten wollen ja Wissen weitergeben…
„Wer sich auf die Möglichkeiten der didaktischen Reduktion einlässt, reagiert oft begeistert.“
Martin Lehner: Das Stoffmengen-Problem ist weit verbreitet. Ich kenne es aus vielen Bereichen, auch aus der Wirtschaft. Menschen tun sich oft schwer, mit großen Stoffmengen zurechtzukommen. Allerdings erlebe ich auch immer wieder: Wer sich dann auf die Möglichkeiten der didaktischen Reduktion einlässt, reagiert häufig begeistert. Er merkt, dass er inhaltlich gefordert ist, denn er muss sich intensiv mit seinem Stoffgebiet auseinandersetzen.
Didaktische Reduktion setzt also fachliche Expertise voraus?
Martin Lehner: Ja. Nur wer fachlich wirklich gut ist, kann auch didaktisch reduzieren. Um einen Stoff zu konzentrieren und eine Auswahl zu treffen, muss man sich mit den Inhalten beschäftigen. Das ist eine durchaus anspruchsvolle fachliche Leistung.
„Nur wer fachlich wirklich gut ist, kann auch didaktisch reduzieren.“
Was raten Sie einem Berater, der einen Fachartikel schreiben möchte und sich schwertut, einen erheblich zu lang geratenen Fachartikel zu kürzen?
Martin Lehner: Es lässt sich ja folgendes Phänomen beobachten: Wenn es um die Inhalte eines Fachkollegen geht, haben die meisten Menschen wenig Probleme mit der Reduktion. Die sagen dann ganz entspannt und locker: Den dritten Abschnitt könnte man streichen, den fünften mindestens halbieren. Schwierig wird es erst, wenn man die eigenen Inhalte reduzieren muss. Je öfter jemand einen Stoff schon gelehrt oder vorgetragen hat, desto emotionaler verbunden ist er mit seinem Wissen. Da loszulassen, fällt oft sehr schwer.
Daraus lässt sich der Rat ableiten, seinen Text nicht selbst zu kürzen, sondern einen Fachkollegen darum zu bitten?
Martin Lehner: Ja, das ist durchaus eine Möglichkeit. Ein anderer, ebenfalls bewährter Weg ist der Grüne-Wiese-Ansatz: Man schiebt alles Vorhandene zur Seite und fängt noch einmal neu an. Denn wer immer nur da eine Kleinigkeit streicht oder dort einen Satz herausnimmt, erreicht letztlich nur marginale Änderungen. Man müht sich, doch der Text wird trotzdem nicht richtig schlank. Da ist es oft leichter, man erstellt den Artikel neu.
Indem man eine neue, schlanke Gliederung aufstellt, die auf wenige Aspekte reduziert bleibt?
Martin Lehner: Genau. Man kann man sich zum Beispiel fragen: Was würdest du auswählen, wenn du für den Text zehn Seiten Platz hast, was bei drei Seiten, was bei einer Seite? So zu denken ist sehr hilfreich: Man wertet den weggelassenen Stoff nicht ab, sondern nimmt schlicht zur Kenntnis, dass der Platz begrenzt ist und deshalb Auswahlentscheidungen notwendig sind. Ich nutze hier gerne das Bild eines Siebs und spreche von Sieben der Reduktion: Je weniger Platz zur Verfügung steht, desto weitmaschiger ist das Sieb zu wählen. Im Extremfall fällt fast alles durch und nur wenige grobe Körner bleiben im Sieb hängen.
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In Ihrem Buch arbeiten Sie mit einigen sehr einprägsamen Abbildungen. Auch das ist eine Form der didaktischen Reduktion?
Martin Lehner: Das ist ein interessantes Thema. In unserer heutigen mediatisierten Welt existieren sehr viele visuelle Angebote; das Internet ist voll davon. Nur: Das Vorhandensein eines visuellen Angebots ersetzt nicht die Visualisierungshandlung. Einen Sachverhalt zu visualisieren ist eine Denkleistung, eine Art Übersetzungs- oder Transformationsleistung. Und die ist nach meiner Beobachtung eher seltener geworden…
… wobei Berater eigentlich ganz gerne visualisieren.
Martin Lehner: Stimmt. Die gehen oft ans Flipchart, um etwas zu skizzieren. Es geht allerdings nicht darum, jede Aussage gleich irgendwie in eine visuelle Form zu übersetzen. Man sollte mit dem Instrument eher defensiv umgehen und sich darauf beschränken, bestimmte Kernaussagen in ein Bild zu übersetzen. Meistens sind das dann die Aussagen, die sich die Menschen tatsächlich merken. Ein Beispiel: Martin Wagenschein hat das Konzept von der Grundlandschaft und den Tiefenbohrungen nur in Textform beschrieben. Ein so zentrales Prinzip sollte man aber auch zeigen – erst dann prägt es sich wirklich ein!
Wie gelingt es, die oft sehr abstrakten Zusammenhänge eines Fachartikels zu visualisieren? Können Sie einen Tipp geben?
„Visualisieren ist im wesentlichen ein Handwerk, das man abseits von irgendwelchen Zeichenkünsten erlernen kann.“
Martin Lehner: Es ist da wie so oft im Leben: Es lohnt sich, sich einmal mit dem Thema auseinanderzusetzen. Je mehr man damit spielt, desto mehr weiß man um die Möglichkeiten, die es da gibt. Zum Beispiel kann man sich ansehen, welche unterschiedlichen Formen an Strukturen es gibt – etwa hierarchische Strukturen, kategoriale Strukturen, Prozessstrukturen. Das führt oft zu Ideen, wie man einen Zusammenhang visuell darstellen kann. Visualisieren ist im wesentlichen ein Handwerk, das man abseits von irgendwelchen Zeichenkünsten erlernen kann.
Als Fazit lässt sich festhalten: Instrumente wie die Siebe der Reduktion, Grundlandschaft und Tiefenbohrungen oder Visualisieren sind wertvolle Hilfsmittel, um komplexes Wissen verständlich zu vermitteln. Heute mehr denn je…
Martin Lehner: … zumal wir uns im Internet ja tendenziell eher extensiv bewegen. Wir gehen gerne in die Breite, schauen viele Dinge an. Das ist auch in Ordnung, birgt aber die Gefahr, eher an der Oberfläche zu bleiben und auf Tiefenbohrungen zu verzichten. In dieser Hinsicht hat sich die mediale Sozialisation in den letzten Jahren ziemlich verändert.
Umso mehr gewinnt dieses Auswählen und Konzentrieren, diese didaktische Reduktion, an Bedeutung!
Martin Lehner: Ja, das sehe ich auch so. Aber dafür sind dann ja auch Sie da, mit Ihrer Deutsch-Werkstatt: Menschen dazu anzuleiten, die inhaltlichen Tiefenbohrungen etwa in Form von Fachartikeln vorzunehmen.
Prof. Dr. Martin Lehner, Vizerektor für Lehre an der Fachhochschule Technikum Wien, leitet das Institut für Sozialkompetenz und Managementmethoden und zeichnet für die Bereiche Didaktik und Hochschulentwicklung verantwortlich. Der habilitierte Erziehungswissenschaftler war nach einer Tätigkeit als Personalentwickler bei IBM selbständiger Trainer und Berater, anschließend Prozess-Coach bei der TUI. Von 1998 bis 2005 war er an der Fachhochschule Vorarlberg, davon drei Jahre als Vizerektor.
Foto: © Lukas Beck
Weiterführende Informationen
- Viel Stoff – wenig Zeit: Wege aus der Vollständigkeitsfalle, 200 Seiten, Haupt Verlag, 4. Auflage 2013
- Viel Stoff, wenig Platz: Der Trick mit der didaktischen Reduktion, Beitrag Deutsch-Werkstatt, August 2017
- Der Mikroartikel: Wie Sie durch Mikroartikel Ihr Wissen bewahren und vermehren
Hinweis: Ein ebenfalls nützliches Konzept, um Wissen zu strukturieren, ist die Wissenslandkarte. Sie dient dazu, einen Überblick über das eigene Wissen zu bekommen – zum Beispiel um einen Redaktionsplan oder eine erste Gliederung für ein Buchprojekt zu erstellen. Wie Sie in vier Schritten eine solche persönliche Wissenslandkarte erstellen, erfahren Sie hier (kostenloses E-Paper):